Wer ist das Chicken in der Eurokrise?

Ein bekanntes Spiel der Spieltheorie ist das sogenannte Chicken-Spiel. In diesem Spiel fahren zwei Autos frontal aufeinander los. Derjenige Autofahrer, der zuerst ausweicht, ist das Chicken. Das Spiel dient der Analyse einer Situation, in der zwei Spieler mit gegensätzlichen Interessen gegeneinander antreten. Die Frage ist: Welcher Spieler setzt sich durch und welcher Spieler ist das Chicken?

Heute untersuchen wir, wer das Chicken in Europa sein wird. Die Ausgangslage ist klar. Auf der einen Seite haben wir Länder, welche über Jahre hinweg über ihre Verhältnisse gelebt und dringende wirtschaftspolitische Strukturreformen auf die lange Bank geschoben haben. Nennen wir diese Länder plakativ den Süden, da sie mehrheitlich in Südeuropa liegen. Auf der anderen Seite haben wir den Norden. Dieser hat sich in den letzten Jahren mittels schmerzhafter Reformprogramme für den internationalen Wettbewerb fit getrimmt. Dazu gehört, wie leicht zu erraten ist, auch Deutschland.

Der Norden und der Süden sind nun auf der Piste und fahren mit Vollgas aufeinander zu. Was möchte der Süden? Der Süden möchte gerne die Vergemeinschaftung der Schulden. Eine solche Vergemeinschaftung lässt sich beispielsweise mit den viel diskutierten Eurobonds erreichen. Das gleiche Ziel hat auch der Euro-Rettungsfonds EFSF. Eine sogenannte Bazooka-Lösung wird auch erwogen: Die Europäische Zentralbank (EZB) soll sämtliche südeuropäischen Staatsschulden aufkaufen. All die Lösungen haben dasselbe Ziel: Die Last der Schulden des Südens sollen in den Norden transferiert werden. Für den Süden hat dies den Vorteil, dass schmerzhafte Strukturreformen weiterhin hinausgeschoben werden können. Was erstaunlicherweise im Süden auch ganz offen zugegeben wird. Der ehemalige italienische Finanzminister Giulio Tremonti hat sich vor kurzem deutlich für Eurobonds ausgesprochen. Auf die Frage, welche Vorteile denn diese Lösung hätte, meinte er trocken, dass dann die Sparbemühungen und Strukturreformen, welche gerade im italienischen Parlament besprochen wurden, nicht mehr notwendig seien. Für den Süden bedeutet geradeaus fahren also, den gewohnten Lebensstil aufrecht zu erhalten. Ausweichen hingegen heisst, die notwendigen Strukturreformen anzugehen und die Schulden abzubauen.

Was möchte der Norden? Der Norden möchte, dass der Süden sich über Strukturreformen wieder fit macht. Gleichzeitig fürchtet er aber auch um die Stabilität des Euroraums. Er ist daher bereit, dem Süden Hilfe anzubieten, zumindest temporär. Das Problem besteht nun allerdings darin, dass eine Vergemeinschaftung der Schulden den Reformeifer im Süden zum Stillstand bringen wird. Erst die Rebellion der Finanzmärkte hat überhaupt dazu geführt, dass zum Beispiel in Italien über zaghafte Reformen diskutiert wird. Berlusconi ist noch heute davon überzeugt, dass in seinem bel paese alles zum Besten steht.    Für den Norden bedeutet also geradeaus fahren, dem Süden keine Hilfe in Form von Eurobonds oder Ähnlichem anzubieten. Ausweichen heisst, einer Vergemeinschaftung der Schulden via Eurobonds zuzustimmen.

Fahren beide gerade aus, haben wir eine Situation, in welcher der Süden sich notwendigen Reformen verweigert und es keine Vergemeinschaftung geben wird. Das Ergebnis ist eine unkontrollierte Implosion des Euroraums, welche sowohl für den Süden als auch für den Norden das schlechteste aller Ergebnisse ist.

Fährt der Süden gerade aus und der Norden weicht aus, resultiert eine Situation, in welcher  der Süden keine Reformen durchführt und der Norden effektiv die Schulden des Südens übernimmt. Dies ist ein mögliches Gleichgewicht des Chicken-Spiels (und aus meiner Sicht auch das wahrscheinlichste). In der langen Frist wird Europa dann wohl zum Spiegelbild des heutigen Italien. Dort alimentiert seit Jahrzehnten ein wirtschaftlich erfolgreicher Norden den wirtschaftlich schwachen Süden. Das ist auch für Europa ein stabiler Zustand, da kein Spieler einen Anreiz hat, an der Situation etwas zu ändern. Der Süden möchte schwach bleiben, da er sonst die Subventionen verliert und der Norden zahlt, weil sonst die Idee Europa stirbt.

Im anderen Gleichgewicht ist der Süden das Chicken. Er rauft sich zusammen und nimmt sein Schicksal selbst in die Hand. Er macht dies, weil er befürchtet, dass der Norden hart bleibt und keine Hand für die Vergemeinschaftung der Schulden hergibt. Langfristig bedeutet diese Lösung, dass in Europa jedes Land für seine eigenen Schulden gerade steht. Dieses Modell wird seit Jahrzehnten in den USA und auch in der Schweiz praktiziert. In den USA ist jeder Bundesstaat für seine eigenen Schulden verantwortlich. Die Abwesenheit einer helfenden Hand hat dazu geführt, dass in vielen Bundesstaaten eine rigorose Null-Schulden Politik betrieben wird. Auch Kalifornien, das fälschlicherweise oft mit Griechenland verglichen wird, hat nur eine vergleichsweise geringe Verschuldung: Im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt beträgt sie weniger als 20 Prozent.  Dieselbe Masszahl für Griechenland liegt zwischen 150 und 220 Prozent, je nach Zählweise.

Abschliessend noch eine Bemerkung zur Bazooka-Lösung: Es wird oft argumentiert, dass ja auch die amerikanische Zentralbank Staatsschulden aufkaufe, um ein ähnliches Vorgehen der EZB zu begründen. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass die EZB in der Bazooka-Lösung die Schulden einzelner Länder aufkauft.  Vergleichbar wäre dies mit der der Forderung, die Schweizerische Nationalbank solle die Schulden des Kantons Zürich oder eines anderen Kantons aufkaufen, wenn dieser Überschuldet ist.

This entry was posted in Uncategorized and tagged , , . Bookmark the permalink.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *