Die 90%-Scheindebatte um die Verschuldungsquote

Wie wirkt sich die Verschuldung eines Staates auf das reale Wachstum aus? Dies ist eine klassische Frage der Wirtschaftswissenschaften und  mit der jüngsten europäischen Verschuldungskrise ist sie wieder auf die wirtschaftspolitische Tagesagenda katapultiert worden. Es gibt unzählige theoretische und empirische Studien zu diesem Thema, wobei zahlreiche Untersuchungen  eine negative Korrelation zwischen Verschuldung und realem Wachstum dokumentieren. Dies bedeutet, dass eine höhere Verschuldung tendenziell mit einer geringeren Wachstumsrate (und umgekehrt) einhergeht. Es bedeutet aber nicht, dass sich eine hohe Verschuldung negativ auf das Wachstum auswirkt. Ein solcher kausaler Zusammenhang ist ungleich schwieriger zu messen und bis anhin hat dies auch noch niemandem  getan.

Im Lichte der bereits existierenden  Studien ist es erstaunlich, dass eine jüngere Arbeit von Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff es bis auf die Frontseiten der Tagespresse geschafft hat, wo sie spektakuläre Schlagzeilen schrieb, wie folgende Beispiele zeigen:  „Die gottverdammte 90“, „Shitstorm, mal anders“, „Reinhardt and Rogoff, and the Excel Error that changed history“.  Um was geht es hier überhaupt?

Reinhardt und Rogoff dokumentieren in ihrem Artikel einen abrupten Rückgang der realen Wachstumsrate, wenn die Verschuldungsquote eines Staates 90% überschreitet. Dieses plakative Resultat wurde medial weltweit aufgebauscht und hat insbesondere die Debatte um die Austeritätspolitik in Europa stark geprägt. Unterdessen hat sich jedoch herausgestellt, dass dieses Resultat zum grössten Teil auf einer falsch ausgefüllten Excel-Tabelle beruht. Im Moment findet eine wissenschaftliche Debatte darüber statt, inwieweit die Resultate von Reinhardt und Rogoff Bestand haben, wenn der Fehler korrigiert wird. Die Details dieser Debatte erspare ich ihnen, da es interessantere Fragen zu beantworten gibt.

Zum Beispiel wie es überhaupt dazu kommt, dass eine Studie und eine Zahl (in diesem Fall die Prozentzahl 90) in der wirtschaftspolitischen Debatte eine derartige Prominenz erhält? Notabene zu einer Frage über die bereits tausende Studien existieren, welche in der Summe keinen nachweislich kausalen Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und realem Wachstum aufzeigen können.

Die Antwort ist, dass es aus der Politik und aus den Medien eine grosse Nachfrage nach simplen Erklärungsmustern für komplexe volkswirtschaftliche Fragen gibt. Simple Erklärungsmuster sind entweder Ja oder Nein, gut oder schlecht (bei wirtschaftpolitischen Fragen), rauf oder runter (bei den Börsen) oder eine Zahl (das ist immer optimal). Wenn man als Ökonom(in) diese Regeln einhält, bestehen gute Chancen, eine gewisse Berühmtheit zu erlangen.  Dies ist der Grund, wieso die Studie von Reinhardt und Rogoff derart viel Beachtung fand.

Die beiden Ökonomen stehen exemplarisch für einen Teil unserer Zunft, welcher sich darauf spezialisiert hat, die Nachfrage nach simplen Erklärungsmustern für komplexe volkswirtschaftliche Fragen zu befriedigen. Dafür braucht man eine Zahl und durchforstet entsprechend die Daten bis man erfolgreich eine gefunden hat (diese Methode wird auch data-mining genannt und ist wissenschaftlich stark umstritten.) Dummerweise haben  Reinhardt und Rogoff dabei einen simplen Excel-Fehler gemacht, der ihnen zum Verhängnis wurde.

Zurück zur klassischen Frage an sich: Wieso ist es derart schwierig, einen kausalen Zusammenhang zwischen Verschuldungsquote und realem Wirtschaftswachstum nachzuweisen? Vermutlich, weil nur ein schwacher direkter Wirkungszusammenhang existiert.  Ich möchte das am Beispiel von Griechenland erörtern. Für Griechenland ist es offensichtlich, dass nicht primär die hohe Verschuldungsquote einen negativen Effekt auf das Wachstum hat. Vielmehr ist die hohe Verschuldung und das schwache Wachstum Ausdruck dafür, dass vieles schief läuft in Griechenland. Ich denke da unter anderem an absurde Arbeitsmarktregulierungen, monopolistische Markstrukturen und geringe Produktivitäten in der Privatwirtschaft und beim Staat. Mit dem Eintritt Griechenlands in den Euroraum wurden diese Probleme durch  billig verfügbares  Geld anfänglich übertüncht, doch  mit der Finanzkrise von 2008 kamen sie dann nachträglich voll zum Tragen.  Eine generelle Kultur des „ich beziehe vom Staat Dienstleistungen und andere sollen dafür bezahlen“ bzw. das Unvermögen oder der Unwille der Politiker Steuern einzutreiben, haben zeitgleich dazu geführt, dass die Verschuldung laufend angestiegen ist.

Eine hohe Verschuldung und speziell eine schnelle Zunahme der Verschuldung deuten letztendlich darauf  hin, dass in diesem Staat etwas fundamental falsch läuft. Eine Scheindebatte, wie wir sie  um die Zahl 90 erlebt haben, ist dabei nicht nur  nutzlos sondern  kontraproduktiv. Ökonomen, Politiker und die Medien sollten sich darauf konzentrieren, die Ursachen zu thematisieren. Leider verdient man sich damit keine Lorbeeren und man schafft es auch nur selten auf die Frontseite der Tagespresse. Komplexe Erklärungsmuster für komplexe volkswirtschaftliche Fragen sind offenbar nicht medientauglich.

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